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Irak und Syrien - Weltweite Bedrohung der Christen durch IS

WWU Monatlicher Bericht - 10 SEPTEMBER 2014

Gegenwärtig zieht der IS (Islamischer Staat) eine Spur der Verwüstung durch den Irak und Syrien, doch das ist nicht das Ende der geplanten Ausbreitung. Staatsoberhäupter weltweit bezeichnen IS als die größte Bedrohung der Gegenwart. Welche Rolle genau spielt IS hinsichtlich des Themas Christenverfolgung? Vor diesem Hintergrund beschäftigen sich die Analysten der WWU (World Watch Unit) in diesem Monat mit der Frage:

Worin besteht die Bedrohung durch den Islamischen Staat für Christen weltweit?

Dazu werden folgende Aspekte untersucht
1) Wer oder was ist der Islamische Staat (IS)?
2) Welche Rolle spielt IS hinsichtlich Islamisierung?
3) Wie passt IS in das Gesamtbild der weltweiten Christenverfolgung?
4) Wodurch ist IS so erfolgreich?
5) Wie könnte das weitere Vorgehen von IS in der Region (Mittlerer Osten) aussehen?
6) Was bedeutet das für die Christen in der Region und weltweit?

 

1. Wer oder was ist der Islamische Staat?

Der Islamische Staat (IS) ist eine Gruppe militanter Sunniten, die Ende Juni 2014 ein Kalifat ausgerufen und errichtet haben. Die Gruppe setzt sich aus mehreren vormals Al Kaida nahe stehenden radikalen Gruppierungen zusammen und will die strenge Form der Scharia in einem neuen Staat umsetzen. Dem Syrian Observatory of Human Rights zufolge verfügt IS in Syrien über 50.000 und im Irak über 30.000 Kämpfer. Viele der IS-Kämpfer sind Einheimische, allerdings kommen etwa 11.000-12.000 der ‚Gotteskrieger‘ aus dem Ausland. Davon stammen etwa 3.000 aus dem Westen, wie die in New York ansässige Soufan Gruppe und das Londoner International Centre for the Study of Radicalization berichten. Insbesondere nach dem Ausrufen des Kalifats stieg die Zahl der ausländischen Dschihadisten rasant an.

2. Welche Rolle spielt IS hinsichtlich Islamisierung?

IS ist nicht etwa eine isolierte Gruppe, sondern fest integrierter Bestandteil eines gut etablierten islamistischen Spektrums. Dieses Spektrum umfasst auch die islamischen Mainstream-Gruppen, die die gleiche Grundidee verfolgen, extremistische Erscheinungsformen allerdings vermeiden. Das macht IS so gefährlich.
IS ist das typische Beispiel für ‚gewaltbereite Verweigerer‘, die radikalste Form des Islamismus. Islamismus lässt sich wie folgt definieren: Erscheinungsformen politischer Theorie und Praxis, die das Errichten einer islamisch-politischen Ordnung zum Ziel haben in dem Sinn, dass die Regierungsprinzipien, Institutionen und das Rechtssystem eines Staates sich vollständig aus der Scharia herleiten(1). ‚Gewaltbereite Verweigerer‘, die auch als Dschihadisten bezeichnet werden, sind Individuen sowie Netzwerke, die verbunden mit oder inspiriert sind von Al Kaida. Sie verweigern die Teilnahme an einem demokratischen System und setzen zur Erreichung ihrer Ziele Gewalt ein. Die beiden anderen Formen des Islamismus sind ‚nicht-gewaltbereite Verweigerer‘, wie z.B. die Salafisten und die ‚Partizipionisten‘, wie z.B. die Muslimbrüder. Dies erläutert Dr. Laurenzo Vidino, leitender Wissenschaftler am Center for Security Studies, in seinem jüngsten von der WWU in Auftrag gegebenen Bericht zum Thema Islamismus in Europa(2).

Laut Vidino sind "nicht gewaltbereite Verweigerer Individuen und Gruppierungen wie die Salafisten und Hizb ut-Tahrir, die öffentlich die Legitimität aller Systeme und Regierungen ablehnen, die nicht auf islamischem Gesetz gegründet sind. Dabei vermeiden sie es jedoch – zumindest in der Öffentlichkeit – den Einsatz von Gewalt zur Erlangung ihrer Ziele zu befürworten." Weiter sieht Vidino "am Fuß der islamistischen Pyramide die zumindest zahlenmäßig wichtigste Komponente des politischen Islam in Europa: die Muslimbrüder und andere ‚partizipionistische‘ islamische Bewegungen. Partizipionisten sind Individuen und Gruppierungen, die dem Zweig des Islam angehören, der sich in die Gesellschaft einzubringen sucht, durch sogenannte ‚Graswurzel-Aktivitäten‘ auf der Mikroebene und durch Teilnahme am öffentlichen Leben und demokratischen Prozessen auf der Makroebene", so Vidino. "Anders als die Verweigerer vermeiden diese Organisationen unnötige Konfrontationen und bedienen sich stattdessen cleverer und flexibler Vorgehensweisen im Umgang mit dem europäischen Establishment."

(1) Peter Mandaville, Global Political Islam (London: Routledge, 2007): p57.
(2) Lorenzo Vidino, Islamism in Europe. Report commissioned by WWR (ODI), April 2014. Accompanied by analysis by Frans Veerman, WWU director.


3. Wie passt IS in das Gesamtbild der weltweiten Christenverfolgung?

Das Regime von IS ist die stärkst mögliche Ausdrucksform von islamischem Extremismus, der weltweit als Haupttriebkraft von Verfolgung gilt. Alle Menschen unter einem solchen Regime müssen sich völlig der Scharia unterwerfen. Dies wird mit äußerster Gewaltanwendung durchgesetzt.
Die Entfaltung des Verfolgungsmusters, wie es bei IS vorzufinden ist, ist typisch für den islamischen Extremismus; es hat sich sehr schnell entwickelt. Zentrales Merkmal ist der enorme Druck, der in allen Lebensbereichen auf Christen (und andere Nicht-Muslime) ausgeübt wird, gepaart mit sehr viel Gewalt. Hat sich IS einmal etabliert, so nimmt die Gewalt wieder ab, weil die Christen entweder zwischenzeitlich ermordet wurden, geflohen sind oder sich in ihr Schicksal als Dhimmis (Schutzbefohlene, die Kopfsteuer bezahlen) gefügt haben. Muslime, die zum Christentum konvertieren, werden auf jeden Fall getötet.

4. Wodurch ist IS so erfolgreich?

Gegenwärtig kontrolliert IS ein Gebiet von der Größe Jordaniens. Der Vormarsch von IS im Irak war keine große Überraschung. Die irakische Regierung war nach den Wahlen mit der Bildung eines neuen Parlaments beschäftigt, während die Armee aufgrund niedriger Gehälter und vorheriger Attacken von IS wenig motiviert war. In diesem Vakuum hatte es zuerst den Anschein, als könne IS ohne nennenswerten Widerstand bis nach Bagdad durchmarschieren.
Hinzu kam, dass Syriens Präsident Assad keine Anstalten machte, gegen IS vorzugehen, obwohl IS einen Teil Syriens eingenommen hatte. Vielleicht wollte er damit den Westen bewegen, ihm im Kampf um die Vorherrschaft in seinem Land zur Hilfe zu eilen.
Schließlich muss noch die mangelnde Unterstützung der westlichen Länder genannt werden. Bis die politischen Führer im Westen eine Strategie festgelegt hatten und tatsächlich aktiv wurden, hatte IS bereits beträchtliche Teile des Iraks und Syriens eingenommen und mit dem Projekt zur Bildung einer Nation begonnen, die offenbar ihrem Traum von einem islamischen ‚Friedensreich‘ nahekommt.

5. Wie könnte das weitere Vorgehen von IS im Mittleren Osten aussehen?

In naher Zukunft wird sich IS kaum weiter in den Süden ausbreiten können, denn die Bevölkerung dort besteht mehrheitlich aus Schiiten. Sie wird keinen islamischen Staat unter sunnitischer Herrschaft akzeptieren, anders als die sunnitische Bevölkerung im Nordwesten des Landes. Außerdem wird der Iran Übergriffe des IS gegen die Schiiten oder gar ein Vorrücken gegen den Iran nicht zulassen. Hinzu kommt nach der Enthauptung zweier Amerikaner und der Androhung, desselben Schicksals für einen Briten, die Bereitschaft der USA und ihrer Verbündeter, stärker gegen ein weiteres Vorrücken der IS vorzugehen.

Sollte jedoch ein weiterer Vormarsch des IS im Irak verhindert werden, so könnte dies noch ganz andere Horizonte in der Region eröffnen – so etwa in Jordanien oder dem Libanon. In diesen Ländern ist die IS bereits präsent, was die Situation im Libanon unberechenbar gemacht hat; in der jordanischen Stadt Ma’an fand Ende Juni eine pro-IS Kundgebung statt.
IS beschränkt sich also nicht darauf, gewonnenes Territorium zu sichern, sondern strebt eine Ausdehnung seines Einflusses über die Grenzen des Irak und Syriens hinaus an. Der ursprüngliche Name der Miliz, "ISIL" hatte dies bereits angedeutet: Islamischer Staat im Irak und in der Levante, was Syrien, Irak, Jordanien, Libanon und Israel samt den Palästinensergebieten einschließt. Diese Region hat für IS also oberste Priorität. Allerdings lässt die Gruppe keinen Zweifel daran, dass das zukünftige Kalifat weltweite Dimensionen haben soll. Deshalb auch der Namenswechsel hin zu IS – Islamischer Staat – der über alle Landesgrenzen hinweg aufgerichtet werden soll.

6. Was bedeutet das für die Christen in der Region und weltweit?

Wo immer IS Macht erlangt hat, werden Christen und andere Minderheiten mittels einer Schreckensherrschaft vertrieben. Vor der Angriffswelle des IS lebten etwa 35.000 Christen in Mossul, heute dagegen ist die Stadt annähernd ‚christenfrei‘. Laut World Watch Monitor haben mittlerweile die letzten Christen die nördlich gelegene Stadt Bartella verlassen, das Gleiche gilt für Karakosch. Tausende Christen sind nach Erbil und Dohuk geflohen. Eine christliche Mutter sagte, was viele denken: "Bleiben wir, so werden wir dies immer und immer wieder erleben. Ursprünglich wollten wir im Irak bleiben, denn das ist unsere Heimat. Wir lieben unser Land. Es ist jedoch unerträglich geworden. So können wir nicht weiterleben."

Noch mehr Sorgen bereitet das, was viele Christen mitnehmen. Ihres gesamten Besitzes beraubt, geflohen mit nichts außer der Kleidung auf ihrem Leib, tragen sie – Erwachsene und Kinder –in ihrem Inneren eine lähmende Furcht. Diese Furcht plagt sie am Tag und beschert ihnen des Nachts Alpträume. Kinder wachen nachts schreiend auf: "IS kommt! IS kommt!" Die Furcht ist begründet, denn in dem Vorhaben, ein islamisches Kalifat zu errichten, ist IS jedes Mittel recht – einschließlich extremer Gewalt. Davon betroffen und ins Visier genommen sind auch große islamische Gruppierungen, Sunniten aber auch Schiiten sowie Jesiden und Christen. IS hält mit seinen Zielen nicht hinter dem Berg, wie eine Aussage von IS belegt. Sie fiel nach der Eroberung einiger Regionen, die über Jahrhunderte von Christen bewohnt waren: "Ihr habt drei Möglichkeiten – den Islam annehmen, einen Vertrag als Dhimmis (Schutzbefohlene, die eine Schutzsteuer ‚Jizyah‘ zahlen) oder das Schwert."

Die IS Bewegung verfügt durch die ausländischen Gotteskrieger über ein beachtliches Potential, sich über die Grenzen von Syrien und dem Irak hinaus auszuweiten. Diese Dschihadisten kehren in ihre Länder zurück, und es ist zu befürchten, dass sie dort ihre Ideen und entsprechende Taten weiter verbreiten. Dazu ist es am 24. Mai 2014 bereits gekommen, als vor dem Jüdischen Museum in Brüssel vier Menschen erschossen wurden. Ein aus Frankreich stammender Dschihadist beging die Tat, nachdem er ein Jahr in Syrien gekämpft hatte. Es ist zu erwarten, dass noch weitere zurückkehrende Dschihadisten in Europa und weltweit gegen Christen, Juden und den Westen losschlagen. Dazu kommt, dass Regierungen mit ihrem Bemühen die Reisetätigkeit und damit verbundene Radikalisierung solcher Dschihadisten einzuschränken, überreagieren könnten, indem sie ganz allgemein die Religionsfreiheit von Muslimen in ihren Ländern beschneiden. Dies könnte zu einem gefährlichen Kreislauf von Frustration und Verbitterung führen, was weitere Gewalt gegen Christen, Juden und den Westen zur Folge hätte.

Doch inmitten dieses Chaos von Furcht und Gefahr gibt es auch Zeichen der Hoffnung. Als die Christen im Nordirak von der enormen Anzahl von Flüchtlingen regelrecht überflutet wurden, begannen sie, diese aufzunehmen und mit dem Nötigsten zu versorgen. Einige Gemeindeleiter gehen ihren Gemeindemitgliedern mit gutem Beispiel voran. Mit dem Blick auf die Zukunft bemühen sie sich besonders um die Kinder. In den Flüchtlingslagern werden beispielsweise kinderfreundliche Zonen eingerichtet, wo sie spielen und einfach Kind sein dürfen. Obwohl der jüngsten Krise Jahrzehnte von Kriegen und Kämpfen vorausgingen und viele Menschen in Verzweiflung stürzten, entdecken heute nicht wenige Christen neu, was es bedeutet, im Glauben an Jesus festzuhalten und Gottes Frieden in Herz und Sinn zu bewahren. Außerdem haben sich auch Muslime Jesus zugewandt, weil ihnen die Christen als Einzige Hilfe anboten. Andere wiederum haben sich wegen der Gräueltaten des IS entsetzt vom Islam abgewandt. Und vielleicht bilden die völlig desillusionierten unter den zurückkehrenden Dschihadisten einen Gegenpol, der gegen die Anziehungskraft des IS Wirkung zeigt.

Lasst uns weiter für die im Irak und in Syrien ausharrenden Christen beten und für all diejenigen, die sich gerade in ihrer Heimat oder im Ausland auf der Flucht befinden, dass Gott unser Herr sie in einer Weise stärkt, die unser Verständnis weit übersteigt.