Auf der Flucht zu Gott gefunden

Die 16-jährige Eun Hye* schloss die Tür zur Latrine hinter sich. Sie war jetzt am sichersten und schmutzigsten Ort in dem Lager für nordkoreanische Straßenkinder. Als sie bei dem dreckigen Loch stand und den bestialischen Gestank ertrug, blitzten plötzlich Erinnerungen auf. Sie sah ihre Großmutter, wie sie kniete und mit dem sprach, den sie „Hananim“ (Gott) nannte. Eun Hye erinnerte sich an ihre Angst – immer bestand die Gefahr, dass Großmutter erwischt würde.

Einige Monate zuvor hatte ihre Mutter Eun Hye und ihren Bruder zu einem Onkel gebracht, um ihren Mann zu suchen. Dieser war vor mehr als einem Jahr aufgebrochen, um nach den beiden ältesten Töchtern zu sehen, die wegen der Hungersnot nach China geflohen waren. Mit seiner Nichte und seinem Neffen hatte der Onkel nun fünf Personen zu versorgen. Bald gab es keine Reissuppe mehr, sondern nur noch Grassuppe. Als die Eltern nicht mehr zurückkamen, erklärte der Onkel Eun Hye, dass er sich nur um einen von ihnen kümmern könne. Eun Hye verließ daraufhin das Haus und versuchte ihr Glück auf der Straße. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie gehen oder was sie tun sollte. Sie setzte sich und betete zum ersten Mal in ihrem Leben zu dem Gott ihrer Großmutter. „Ich bin allein, ohne meine Eltern, Geschwister und ohne Zuhause. Mein Leben ist so dunkel. Bitte rette mich.“ Es war ein Gebet ohne Hoffnung, ein Gebet der Verzweiflung.
 

Eun Hye in Südkorea
Eun Hye in Südkorea

Ein Ort ohne Hoffnung

Nach ein paar Wochen wurde sie von der Polizei aufgegriffen und in das Lager für Straßenkinder gebracht. Es war mit 2.000 Kindern völlig überfüllt. Eun Hye kam in eine Baracke, in der 200 Kinder untergebracht waren. Es gab nicht einmal genug Platz, um zu sitzen. Sie musste Tag und Nacht stehen, ihre Beine schwollen an. Drei Mal am Tag bekamen sie fünf winzige Kartoffeln. Eun Hye lernte schnell, eine Ratte zu fangen und zu essen. Ratten gab es viele. Ohne Möglichkeit sich zu waschen, waren die Körper der Kinder schmutzig und von Maden geplagt. Jeden Tag starben Kinder infolge der Unterernährung. Ihre Körper wurden aus den Baracken geschleift. Die Toilette war ein abstoßender Ort, doch Eun Hye lernte die kostbaren Momente allein mit dem Gott ihrer Großmutter zu schätzen.

Entkommen

Zwei Monate nach Eun Hyes Ankunft im Lager suchten die Wärter Freiwillige, um in den Bergen Kastanien zu sammeln. Dies bedeutete einen Marsch von etwa 100 Kilometern. Eun Hye war sehr geschwächt und wollte nicht daran teilnehmen. Aber dann hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf: „Geh. Melde dich.“ Irgendwie wusste Eun Hye, dass das die Antwort auf ihre Gebete in der Latrine war. Sie sagte zu. Tagelang marschierten sie, bis sie die Berge erreicht hatten. Dort wurden sie zur Arbeit in Gruppen eingeteilt. In einem günstigen Augenblick gelang Eun Hye mit einem anderen Mädchen die Flucht. Sie schlugen sich in eine große Stadt durch, wo sie sich trennten.

Eun Hye schaffte es zurück in ihre Heimat. Ein älteres Ehepaar, das sie von früher kannte, konnte sie nur für ein paar Tage aufnehmen. Dann ging sie weiter. „Gott, ich kann nirgendwo hingehen. Meine Zukunft sieht so düster aus. Bitte führe mich.“ Immer wieder bat sie Menschen, die sie kannte, aber auch Fremde: „Helft mir. Ich tue alles für Essen und ein Dach über dem Kopf.“ Schließlich nahm eine Bauersfamilie sie auf. Endlich war sie in Sicherheit. Ihre Gebete änderten sich: Sie betete nun nicht mehr nur ums Überleben, sondern darum, mit ihrer Familie wiedervereint zu werden. „Danke, Herr, für alles, was du für mich getan hast. Darf ich bitte hier wohnen bleiben? Und bitte hilf mir, meine Familie wiederzufinden.“

Antworten

Eines Tages nahmen Bekannte von Eun Hye Kontakt zu ihr auf. „Dein Vater ist bei uns. Und dein Bruder auch.“ Ihr Vater war zurückgekommen, um seine beiden jüngsten Kinder mit nach China zu bringen. Eun Hye hatte gedacht, sie hätte ihre Familie für immer verloren. Und nun konnte sie ihren Vater und ihren Bruder wiedersehen! „Wie geht es Mutter?“ – „Es geht ihr gut. Und deinen Schwestern auch. Sie sind in China verheiratet. Dort ist das Leben so viel besser.“ – „Wo leben Mutter und du?“ – „Bei deiner chinesischen Tante. Sie ist Christin und geht zur Kirche.“ 

Eun Hye hatte gebetet, aber ohne wirklich zu wissen, wer dieser Hananim war. Selbst ihre Eltern hatten kaum etwas über den Glauben von Eun Hyes Großmutter gewusst. Eun Hyes Vater erklärte ihr, was er in China über das Evangelium gelernt hatte.
 

Grenzsoldaten in Nordkorea
Grenzsoldaten in Nordkorea

Über den Fluss

Mit Gottes Hilfe gelangten sie unentdeckt nach China. Als sie beim Haus ihrer Tante ankamen, gab es ein Fest. Am Sonntag gingen sie zur Kirche. Die chinesische Predigt verstand Eun Hye nicht, aber sie fühlte sich zu Hause. Ihr wurde bewusst, dass die Gebete ihrer Großmutter, ihrer Familie und der chinesischen Gemeinde ermöglicht hatten, dass sie nach China gelangen konnte. „Ich war so dankbar für ihre Gebete. Später erklärte mir ein Übersetzer mehr über Jesus Christus. Er hat uns erlöst. Jesus starb und ist vom Tod auferstanden, um uns von unseren Sünden zu reinigen.“

China erschien Eun Hye wie der Himmel. Doch nordkoreanische Flüchtlinge sind hier nicht sicher: Wenn sie von den chinesischen Behörden gefasst werden, schicken diese sie nach Nordkorea zurück. Eines Tages wurden Eun Hye, ihr Bruder und ihre Eltern verhaftet. Eun Hye weinte, als sie zu einer Brücke nach Nordkorea gefahren wurden. Ihre Eltern waren zusammengekettet, ebenso die nun fast 17-jährige Eun Hye und ihr 13-jähriger Bruder. Am meisten tat es weh, die Handschellen am Handgelenk ihres Bruders zu sehen.

Deportiert nach Nordkorea

In Nordkorea wurden sie zur Untersuchungshaft in ein Gefängnis nahe ihrer Heimatstadt gebracht. Eun Hye und ihre Mutter wurden in eine Frauenzelle gesperrt, ihr Vater und ihr Bruder in eine Zelle mit anderen Männern. Es war bitterer Winter und eiskalt. Bald begannen Eun Hyes Füße zu schmerzen und verfärbten sich – Erfrierungen. Noch schlimmer waren die Verhöre. Jedes Familienmitglied wurde einzeln befragt. „Wo sind deine Schwestern?“, schrien die Beamten. „Sind sie in China?“ Eun Hye weigerte sich zu antworten.

Am schlimmsten wurde es, als ihr Vater bekannte, dass er ein Christ war. Eun Hyes Eltern wurden in Einzelhaft gebracht und jeden Tag gefoltert. Eun Hye konnte ihre Schreie hören.

Im Gefängnis

Die Aufseher schleiften ihre bewusstlose Mutter vor Eun Hyes Zelle. Sie war so schlimm geschlagen worden, dass Eun Hye sie kaum erkannte. „Du wirst enden wie sie, wenn du weiterhin lügst!“, drohten die Männer. Eun Hye wollte schreien und weinen, aber sie riss sich zusammen. Weinen war verboten und hätte noch härtere Bestrafung bedeutet. Sie konnte nichts für ihre Mutter tun.

Der psychische Druck nahm zu. „Jedes kleine Detail, das du verschweigst, wird dich einen Finger kosten!“, wiederholten die Wärter immer wieder. Jeder Tag war ein Kampf ums Überleben. Eun Hyes Füße schmerzten so sehr, dass sie in den fünf Stunden, in denen sie schlafen durfte, keinen Schlaf fand.

Eun Hye hatte schon vieles durchgemacht. Aber jetzt stand ihr ein politisches Arbeitslager bevor. Das war das einzig mögliche Ende dieser Untersuchungshaft. Als Christen hatten Eun Hye und ihre Familie „problematische politische Überzeugungen“. Unheilbare politische Überzeugungen. Das bedeutete, das Umerziehung zwecklos war. Die Familie würde in ein Arbeitslager verschwinden, wo sie an Folter und harter Zwangsarbeit sterben würde.

Doch Eun Hyes Eltern gaben nicht auf. In den Augenblicken, in denen sie bei Bewusstsein waren und gerade nicht gefoltert wurden, beteten sie.
 

Eun Hye in Südkorea
Eun Hye in Südkorea

Ein Wunder geschieht

Das Unmögliche geschah. Eines Tages wurde Eun Hye aus ihrer Zelle gebracht. Ihr Bruder, ihr Vater und ihre Mutter ebenso. Sie wurden freigelassen. Niemand wusste, wie das möglich war. Es gab einfach keine Erklärung. Es musste Gottes Eingreifen sein.

Eun Hye und ihr Bruder brachten ihre schwer verletzten Eltern zum Haus ihres Onkels. Sie hatten keinen anderen Ort, wo sie hätten hingehen können. Nach einigen Wochen hatte sich ihre Mutter etwas erholt und Eun Hyes Erfrierungen waren verheilt. Ihr Vater sagte Eun Hye, sie solle mit ihrer Mutter nach China fliehen. „Dein Onkel kann sich nicht um so viele Leute kümmern. Wir essen hier nur Gras. Du musst mit deiner Mutter zuerst gehen. Ich komme mit deinem Bruder nach, sobald ich kann.“ 

Dank Gottes Eingreifen gelang Eun Hye und ihrer Mutter die Flucht nach China. Inzwischen leben Eun Hye, ihre Mutter und ihre Schwestern in Südkorea. Der Vater starb bald nach der Freilassung an den Folgen der Folter, Eun Hyes jüngerer Bruder ist noch in Nordkorea. 

Bitte beten Sie ...

  • für Eun Hye und ihre Familie. 
  • dass geflüchtete Nordkoreaner Kontakt zu Christen finden und Jesus als Retter kennenlernen.
  • um Schutz für die Flüchtlinge, dass sie nicht entdeckt werden.
  • für die in Arbeitslagern inhaftierten Christen, die am schlimmsten behandelt werden. Beten Sie, dass sie ihren Glauben nicht verlieren und die Qualen ertragen können.

*Name geändert

Blickpunkt Nordkorea